Systems Thinking
Systeme verstehen

Dies & Das

2018-03-19

Woran Digitalisierungsprojekte scheitern: Die 7 wichtigsten Systemfallen

startup-photos.jpgSeit Jahren vagabundiert eine Horrorzahl durchs Projektmanagement: Rund 80% aller IT-Projekte scheitern und allen neuen Tools und verbesserten Prozessen zum Trotz bleibt diese Quote stabil. „Man kann ein Problem nicht mit derselben Denkweise lösen, durch die es entstanden ist“, sagte Einstein schon vor vielen Jahren. Höchste Zeit also, etwas Neues auszuprobieren: Systemdenken.
 
Beispiel: Ein Digitalisierungsprojekt in der Industrie
Bei vielen Industrie 4.0-Projekten wird zunächst nur eine 1-Mann-Projektorganisation gebildet, um den Change voranzutreiben. Der Projektleiter – meist ein fähiger Ingenieur, der nach entsprechenden Zertifizierung „auch Projekt kann“, ist hoch motiviert, der Vorstand euphorisch. Doch das Personal außerhalb der Projektorganisation hat naturgemäß wenig Interesse an schöpferischer Disruption. Denn für sie zählt nur, dass die Anlagen 24/7 laufen und die Qualität fehlerfrei ist. Alles, was den erprobten Produktionsablauf stört, ist eine Gefahr, umso mehr wenn die Verantwortung bei einer anderen Abteilung liegt.
 
Systemfalle 1: verborgene Konflikte
Bei dieser ganz normalen Ausgangslage erzeugt jede Aktion der Projektorganisation automatisch eine Gegenreaktion der Betriebsorganisation. Allerdings wird dieser Konflikt, weil es ihn eigentlich nicht geben darf, im Verborgenen ausgetragen. Und oft ist er den einzelnen Akteuren nicht einmal bewusst. Rein rational ist das Projekt ja vernünftig, sogar unerlässlich. Doch emotional stellt es eine Bedrohung dar, über die niemand offen spricht. Nur im Verhalten der Einzelnen zeigen sich die Folgen:  Hier eine verspätete Anforderung, da eine zusätzliche Sicherheitsebene, dort eine negative Prüfung. Schon bald geraten die ersten Meilensteine ins Wanken, die Zeit-Ampel springt auf gelb.
 
Systemfalle 2: den Druck erhöhen
Der Projektleiter muss nun handeln. Typischerweise erhöht den Druck. Der Ton in den Meetings wird rauer – und schnell eskaliert die Situation. Erst einzelne, dann immer mehr Mitarbeiter wollen den zunehmenden Druck nicht hinnehmen! In Mails bis hinauf in den Vorstand werden die drohenden Folgen des Vorgehens aufgezeigt. Bald geht es nur noch vordergründig um Sachfragen, eigentlich aber um die Lufthoheit im Projekt. Was wird die Geschäftsführung unternehmen? Wahrscheinlich nichts, sondern beide Seiten zu einer gütlichen Lösung auffordern und sich dann wieder um Anderes kümmern. Wird dieser Konflikt jetzt nicht gelöst, schnappt die nächste Falle zu.
 
Systemfalle 3: die schnelle Lösung
Denn jetzt fordert das Management „Quick-wins“. Weil die Ressourcen fehlen, schlägt jetzt die Stunde der externen Berater. Sie sind rasch zur Stelle, ihre Loyalität ist klar und sie erledigen den Job professionell. Allerdings wird ein immer größerer Teil der Projektarbeit an sie ausgelagert. Was dem Projektleiter tiefe Sorgenfalten auf die Stirn treibt, weil sich die monatlichen Rechnungen rapide der Budgetobergrenze nähern. Doch ohne sie geht es nicht mehr, viel zu tief stecken sie schon im Projekt, schleichend ist die Organisation in eine teure Abhängigkeit geraten. Die rote Budget-Ampel ist unvermeidlich geworden. Oder nicht?
 
Systemfalle 4: der Weg des geringsten Widerstands
In einer Krisensitzung findet der Projektleiter einen Ausweg, der das Management überzeugt. Man muss ja nicht alle Features der Software sofort umsetzen, nicht alle Produktionsanlagen gleichzeitig umstellen, nicht auf allen Märkten parallel launchen. Das Senken der Ziele scheint in dieser Situation die Lösung mit den geringsten Nebenwirkungen. Und man gewinnt die Zeit für bessere, grundsätzliche Lösungen. Doch was sich einmal bewährt hat, macht man auch beim nächsten Mal wieder. Nun wird auch die Qualitäts-Ampel von Woche zu Woche dunkelgelber.
 
Systemfalle 5: die Ressourcen verheizen
Die anfängliche Euphorie des Projektes ist längst in Hauen und Stechen übergegangen. Daher hat der Projektleiter nun keine Hemmungen mehr, seine Interessen mit allen Mitteln durchzusetzen, und wenn er dazu die Kollegen im Büro belagern muss. Auch andere Projektleiter nehmen sich ein Beispiel an diesem Engagement. Sie flirten, drohen, intrigieren und fraternisieren was das Zeug hält, Hauptsache der Job wird erledigt. Doch die Lage wird immer schlimmer, weil nun der Krankenstand in der Betriebsorganisation drastisch zunimmt. Die wenigen verbliebenen Kollegen pfeifen bald schon auf dem letzten Loch und reden in der Kantine immer offener über einen Jobwechsel.
 
Systemfalle 6: Lösungen so lange verzögern, bis sie überflüssig werden
Bevor es eng wird für den Projektleiter, zaubert dieser einen neuen Masterplan aus der Tasche. Das Projekt wird danach zwar doppelt so lange dauern und viel teuer, aber nun wird endlich ein PMO implementiert, die neue PM-Software lässt nichts mehr im Verborgenen und tatsächlich stimmt auch der Personalchef endlich den drei neuen Stellen zu, die von Anfang an eingeplant waren. Bald ist alles gut! Doch die Lösung kommt viel zu spät, denn einen Monat später tritt ein neuer COO an und der hat ganz andere Prioritäten als sein Vorgänger. Er will „dem schlechten Geld kein gutes hinterwerfen“, stoppt das Projekt und wertet das Scheitern als Beweis, dass seine Berufung in den Vorstand dringend nötig war!
 
Systemfalle 7: die falschen Schlüsse ziehen
Das Projekt gestoppt, viel Geld verbraten und die besten Kollegen verheizt – leider ein typisches Fazit vieler misslungener Digitalisierungsprojekte. Die übliche Reaktion heißt jetzt: Das waren persönliche Fehler, unvorhersehbare Ereignisse oder falsche Planung. Also wird man die Verantwortlichen in die Wüste schicken, das nächste Projekt noch minutiöser planen und penibelst controllen. Alle sind überzeugt: So wird beim nächsten Mal alles besser werden. Ein typischer Attributionsfehler! Denn was bisher schief gegangen war, ist nicht die „Schuld“ eines Einzelnen gewesen, sondern eine konsequente Aneinanderreihung falscher Interventionen und unerwarteter systemischer Effekte.
 
Lösung: das Problem bei den systemischen Ursachen packen
Die systemische Fehlerkette beginnt in diesem Beispiel lange vor dem Projektstart und die auftretenden Probleme sind konsequente Folgefehler. In diesem Fall ist die Organisation zwar absolut kompetent für den Betrieb, aber noch nicht „projektfähig“. Das heißt konkret: Die Ressourcen- und Budgetplanung ist viel zu konservativ, damit man um teure Freistellungen oder Neueinstellungen herumkommt. Die Zeitplanung ist ein Wunschbild des Vorstands, dem keiner widersprechen möchte. Der Projektleiter ist zwar ein hervorragender Ingenieur, aber als Manager unerfahren. Projekt und Betrieb sind entweder organisatorisch getrennt oder unklar durchmischt – in beiden Fällen sind Zielkonflikte, Reibung und mangelnde Effizienz vorprogrammiert. Für eine wirklich gründliche Anforderungsdefinition fehlt sowieso die Zeit.

Aus diesem einen, nicht wahrgenommenen Defizit vor Projektbeginn resultieren fast zwangsläufig alle Folgefehler - verborgener Widerstand, Eskalation, Notlösungen, Ziel-Erosion, Ressourcen-Vernichtung, verspätete Investitionen und falsches Lernen. Die summierten Kosten dieser Folgefehler sind weit höher als die Kosten einer kompetenten Projektorganisation zu Beginn. Fazit: Digitalisierungsprojekte scheitern nicht an Technik oder Organisation, sondern an Menschen und ihrem (unsystemischen) Denken. 

Admin - 16:30:58 @ Allgemein | Kommentar hinzufügen